Beide waren alkoholisiert. Er, ein Personalberater aus München, deutlich mehr als sie, eine Studentin aus Bremen. Nach einem Besuch in einer Bar am Lenbachplatz soll der 23-Jährige in den frühen Morgenstunden des 13. Januar zwei Mal versucht haben, die junge Frau gegen ihren Willen zu küssen. Seit der Verschärfung des Sexualstrafrechts vor drei Jahren wird ein solches Verhalten nicht mehr als Bagatelle angesehen. Da der Personalberater die Studentin zudem festgehalten und damit Gewalt angewendet haben soll, sah er sich vor einem Schöffengericht am Amtsgericht München mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr konfrontiert. Der 23-Jährige bestritt die Vorwürfe und wurde nun freigesprochen.
Die Studentin ist stark traumatisiert. Während ihrer Aussage weinte sie, zitterte und hyperventilierte zeitweise so heftig, dass der Eindruck entstand, sie könnte jeden Moment zusammenbrechen. Eine Justizangestellte von der Zeugenbetreuung am Amtsgericht saß neben der 23-Jährigen und konnte sie beruhigen.
Mehrere Stunden nach dem mutmaßlichen Vorfall hatte die Studentin dem Personalberater in einem Chat unter anderem geschrieben: „Es tut mir leid, dennoch hast Du mir weh getan. Du hast körperliche Grenzen überschritten.“ Vor diesem Chat hatte sich die Mutter des Personalberaters mit der 23-Jährigen getroffen, um mit ihr zu sprechen. Laut der Studentin erzählte sie der Mutter, dass ihr etwas Ähnliches wie in der Nacht zuvor bereits einmal widerfahren sei. Genaueres wollte oder konnte die junge Frau am Dienstag aufgrund ihres Zustands nicht mitteilen. Sie gestand, psychische Probleme zu haben und sich in psychotherapeutischer Behandlung zu befinden – sowohl wegen des Vorfalls im Januar als auch wegen eines weiteren Ereignisses in ihrer Jugend. Sie berichtete, dass sie sich damals geritzt und an einer Herdplatte verbrannt hatte, mehr jedoch nicht.
An Einzelheiten des angeblichen Vorfalls im Januar konnte sie sich nicht mehr erinnern. Auf die Frage von Richter Thomas Müller, ob es zu einem Kuss kam, den der Angeklagte als einvernehmlich hätte empfinden können, antwortete die Studentin: „Ich weiß nicht.“ Dann äußerte sie unter Tränen in Bezug auf die mutmaßliche Tat: „Ich bin psychisch nicht so krank, dass ich mir so etwas ausdenke.“ Der Richter versuchte, die 23-Jährige zu beruhigen und entgegnete: „Das sagt auch kein Mensch.“ Anschließend zog sich der Vorsitzende mit den Schöffen, der Staatsanwältin und dem Verteidiger, Rechtsanwalt Tom Heindl, zu einem Gespräch zurück. Danach entließ Richter Müller die 23-Jährige und stellte fest, dass ihre Aussagen nicht für eine Verurteilung ausreichten. Auch die Vertreterin der Staatsanwaltschaft stimmte dem zu. Bei der Urteilsbegründung bemerkte der Richter, dass der Zustand der Studentin sehr berührend sei. Ein Schuldspruch sei jedoch aufgrund der inhaltsarmen Aussagen der 23-Jährigen „bei bestem Willen nicht in Betracht“ zu ziehen.

